Text Cornelia Steinert für Programm zum 8.4.09

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Eine alte Geschichte aus Altenburg und eine neue auf dem Weg dorthin

oder

Unschuldige Opfer

Meine Heimatstadt Altenburg hat – darauf weist der Name schon hin – ein wahrlich altes Gemäuer. Die Burg, die kühn auf einem Porphyrfelsen thront, prägt das Antlitz der Stadt seit ewigen Zeiten und meine Familie und mich seit der jüngeren Vergangenheit durch eine ganz besonders einschneidende Erfahrung.

Diese alte Burganlage ist ein bauliches Ensemble aus der Schlosskirche, die im gotischen Stil errichtet wurde, und dem Renaissanceschloss. Eine alte Wehrmauer und die Türmerei bilden eine schützende Umschließung. Zur Burg hinauf führt die haarnadelförmige, steinern gepflasterte Schlossauffahrt, die von halbhohen Mauern seitlich begrenzt ist. Oben ange-kommen, erreicht man den Schlosshof durch ein großes Tor mit einer schweren hölzernen Flügeltür, die mit mächtigen stählernen Beschlägen verstärkt wurde.

Ungezählte Wege führten in meiner Kindheit an der Burg vorbei und dorthinein. Wann immer wir in die Nähe des alten Gemäuers kamen, erstürmten meine beiden älteren Brüder die schroffen Felsen am Fuße der Anlage und erklommen einen Felsvorsprung nach dem anderen. Ich durfte nicht klettern. „Mädchen tun das nicht," wurde mir gesagt, „außerdem bist du viel zu klein." Bei Besuchen im Schlossmuseum flößten mir die ausgestellten Ritter-rüstungen unheimlich viel Furcht ein, denn damals erfuhr ich - vage nur - die Geschichte vom Altenburger Prinzenraub, der von Rittern begangen wurde. Folglich achtete ich stets auf einen gehörigen Abstand zu diesen schaurigen gesichtslosen Gestalten im eisernen Harnisch, von denen ich glaubte, sie könnten sich in Bewegung setzen, wenn sie gerade niemand ansah, und genau wie vor Hunderten von Jahren Angst und Schrecken verbreiten.

Im Gegensatz zu meinem freiwilligen Abstand zu den mittelalterlichen Museumsstücken wuchs mit den Jahren ungewollt der Abstand zu meiner Stadt. Als Kind noch musste ich mit meiner Familie fortziehen. In meiner neuen Umgebung in Berlin kam ich hervorragend zurecht und im Heranwachsen überwand ich diese und jene Ängste.

Gelegentlich vermisste ich jedoch meine alte Stadt, die mit ihren aneinandergeschmiegten Häuschen, ihren vielen Treppen und winzigen Gässchen mehr Geborgenheit zu geben und mehr Wärme auszustrahlen schien als irgendeine andere Stadt. Mir fehlte der vertraute Anblick der alten Burg, die für mich zur Urmutter aller Burgen wurde und an die für mich als einprägsames Symbol für Standhaftigkeit nie eine andere heranreichte, egal wie viele ich bei Reisen in fremde Städte und ferne Länder besichtigte. In meinen Augen konnte keine andere dem Vergleich standhalten.

Je mehr der zeitliche Abstand wuchs, desto interessanter, desto faszinierender wurde für mich die Stadt mit dieser alten Burg und ihrer Geschichte. Gelang es, in den Ferien oder später im Urlaub, ein paar Tage in Altenburg zu verbringen, glaubte ich eine von dem alten Gemäuer ausgehende magische Anziehungskraft zu spüren. Ich musste einfach dorthin. Ich musste den einprägsamen Anblick der Burg erneuern und auffrischen. Es war so, als wollte ich mich davon überzeugen, dass sie noch da war, dass sie noch heil war oder als wollte ich mich vergewissern, ob die Welt noch in Ordnung war. Jedes Mal war ihr Anblick beruhigend und erhebend zugleich. Jedes Mal war es ein bisschen wie nach Hause kommen. Da war sie wieder, die alte Burg! Gleich einer Wächterin erhebt sich diese Mutter aller Burgen über das Häusermeer, über die Gassen und Plätze zu ihren Füßen und scheint die Stadt, deren Bewohner und Gäste zu behüten.

Nach Jahren der Abwesenheit konnte ich meinen Töchtern die Stätten meiner Kindheit zeigen. Dabei war ein Besuch des Schlossmuseums unvermeidlich. Wie erstaunt war ich, als ich meinen früheren vermeintlichen Peinigern in ihren Ritterrüstungen gegenüberstand. Wie klein sie mir jetzt vorkamen! Davor hatte ich mal Angst gehabt! Nein, ich brauchte überhaupt keine Angst mehr zu haben! Die Furcht war dem Interesse an Geschichte gewichen. Wenn sie könnten, was würden diese Gestalten erzählen?

Jeder Abschied von dieser Stadt war schwer und nie wusste ich, wann ich sie wiedersehen würde. Dank moderner Medien, die mir seit Ende der Neunziger zur Verfügung stehen, konnte ich mich seit dem über das Geschehen in Altenburg informieren und meiner Stadt aus der Ferne treu bleiben.

Eines Tages wurde ich auf ein besonderes Ereignis aufmerksam: Im Jahr 2005 wollten die Stadtväter anlässlich des 550. Jahrestages des Altenburger Prinzenraubs ein großes, mehrtägiges Fest ausrichten. Diese Prinzenraub-Festspiele sollten Anfang Juli stattfinden, wobei unter anderem die Aufführung eines Theaterstücks zu dem historischen Ereignis geplant war.

Das war was für mich! Die Gelegenheit, nach langer Zeit wieder nach Altenburg aufzubrechen und endlich die vollständige Geschichte des historischen Kidnappings zu erfahren! Es gelang mir, meine Familie dafür zu begeistern und mit Enthusiasmus organisierte ich alles von den Eintrittskarten bis zur Hotelbuchung. Sogar mein ältester Bruder Thilo, den es nach seiner Scheidung vor acht Jahren nach London verschlagen hatte und den wir lange nicht sehen konnten, wollte sich uns anschließen. Seine in Berlin verbliebene und inzwischen erwachsene Tochter Dana fand ebenso Interesse an dem familiären Ausflug und freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Vater.

Wenige Wochen vor unserer Fahrt nach Altenburg hielt ich die mit der Post gekommenen Eintrittskarten für das Theaterstück in der Hand mit dem aufgedruckten Datum: Samstag, 9. Juli 2005. Jetzt stand es tatsächlich fest. An dem Tag sollte ich mit meiner Familie wieder nach Altenburg kommen. Meine Vorfreude wuchs von Tag zu Tag.

Die einzige, jedoch weniger bedeutende Sorge galt dem Wetter, denn das Theaterstück sollte als Open-Air-Spektakel am Original-Schauplatz vor der historischen Kulisse des alten Gemäuers im Schlosshof aufgeführt werden.

Der große Tag rückte näher. Zwei Tage vorher wollte mein Bruder aus London anreisen und Zwischenstation bei unserer Mutter hier in Berlin machen. Für mich war das ein Arbeitstag, an dem ich mich beschwingt ins Zeug legte als könnte ich so den Feierabend schneller herbeiarbeiten. Meine Vorfreude sollte jedoch jäh ausgebremst werden.

Am Vormittag erhielt mein Kollege, mit dem ich mir das Büro teilte, einen Anruf. Mit aufgeregter Stimme und stammelnd berichtete er mir danach, was er soeben am Telefon erfahren hatte: „Terror in London...Bombe in der U-Bahn ... zwei Tote... fünf Verletzte….

U-Bahnnetz lahmgelegt."

Für einen Sekundenbruchteil schien der Boden unter mir zu wanken. In meinem Kopf wirbelten plötzlich tausende Gedanken durcheinander. Doch ich besann mich und mahnte mich ruhig zu bleiben. Ich schaltete mein Radio ein, das ich im Büro hatte, um die Nachrichten zu hören. Die Schreckensbotschaft wurde bestätigt. Inzwischen war von fünf Toten und achtzehn Verletzten die Rede, von noch mehr Explosionen und drei betroffenen U-Bahnlinien. Von einem Besuch bei meinem Bruder in London wusste ich, dass er die U-Bahn nehmen musste, um zum Flugplatz zu gelangen. Ich wusste, dass er zu dieser Zeit unterwegs gewesen sein musste, denn ich kannte seine Abflugzeit. Nun hoffte ich nur noch, dass es ihm gelingen möge anzukommen, dass er nicht in einer der betroffenen Bahnen saß.

Mein Kollege missbrauchte seinen dienstlichen Internetzugang und schöpfte die neuesten Erkenntnisse zu dem Vorfall ab, die er mir dann sporadisch zurief. Zu jeder vollen Stunde hörte ich erneut die Nachrichten und vernahm mit immer größerem Entsetzen, dass die Zahl der Opfer von Stunde zu Stunde wuchs.

Gegen Mittag rief ich meine Mutter an, die ganz sicher mit den Vorbereitungen des Besuchs beschäftigt war und höchstwahrscheinlich keine Nachrichten gehört hatte. Sie erwartete meinen Bruder am frühen Nachmittag und ich wollte sie vorsichtig darauf vor-bereiten, dass er sich wohl verspäten würde. „Hast du Nachrichten gehört?" fragte ich sie und versuchte so gelassen wie möglich zu wirken. Sie verneinte. „Kann sein," fuhr ich fort, „dass Thilo später kommt, wir haben eben in den Nachrichten gehört, dass das ganze

U-Bahnnetz in London wegen einer technischen Störung stillgelegt wurde." Ich hatte kein Problem, ihr die Hiobsbotschaft auf diese Weise mitzuteilen, denn es war ja keine wirkliche Lüge, nur eine Verharmlosung, mit der ich sie einigermaßen schonend auf die Meldungen vorbereiten wollte, die sie später ohnehin vernehmen würde.

Doch mein übereifriger Kollege meinte, die neuesten Informationen beisteuern zu müssen und rief lauthals aus dem Hintergrund: „Zwanzig Tote...35 Verletzte!" Rasch hielt ich die Sprechmuschel zu und hoffte, dass Mutter diese unsensiblen Zwischenrufe nicht gehört hatte. Ich schlug ihr vor, sie solle versuchen Thilo auf seinem Handy anzurufen und versprach, mich später wieder zu melden.

Während Thilos bereits erwachsene und in Berlin lebende Tochter, die uns nach Altenburg begleiten wollte, ihren Feierabend bei Mutter zubrachte, versuchte ich von zu Hause aus irgendetwas über den Verbleib meines Bruders zu erfahren. Ich sprang zwischen Fernseher, Telefon und Internet hin und her. Stündlich telefonierten wir miteinander und tauschten uns aus. Als es Abend wurde, hatten wir immer noch nichts von Thilo gehört. Mutter machte sich Vorwürfe, weil sie ihn gebeten hatte, noch früher von zu Hause aufzubrechen, damit er bloß nicht seinen Flug verpasste. Doch wir machten uns Mut und gaben nicht auf, auch wenn es aussichtslos im hoffnungslos überlasteten Telefonnetz erschien, die erlösende Nachricht zu erhalten. Wir wollten nicht untätig ausharren, sondern wenigstens etwas unternehmen, um ihn zu finden. Das überdeckte die quälende Ungewissheit und hielt uns davon ab, in Panik zu verfallen. Schließlich fand sich am späten Abend im Internet eine frisch geschaltete Hotline der britischen Botschaft, doch wir wurden auf den nächsten Morgen vertröstet.

Keiner konnte in dieser Nacht ruhig schlafen und am nächsten Morgen konnte die britische Botschaft leider nichts Neues vermelden. Die Stunden des Vormittags zogen sich wie eine Folter hin.

Gegen Mittag kam endlich der erlösende Anruf. Thilo war wohlbehalten angekommen und berichtete vom seltsamen Verlauf seiner Reise. Entgegen Mutters Rat brach er später von zu Hause auf. Seine U-Bahn-Station wurde gerade abgesperrt als er dort eintraf. Er fand eine Buslinie, die ihn statt der U-Bahn zu seinem Flughafen Stansted brachte, doch sein Flieger konnte nicht starten, weil Luft- und Bodenpersonal im Chaos des zusammengebrochenen Londoner Verkehrsnetzes festsaß. Er brachte den restlichen Tag und die ganze Nacht auf dem Flughafen zu und konnte erst am nächsten Vormittag fliegen.

Nachdem ich ihn in Sicherheit wusste, konnte ich mich entspannt meinen Reisevorberei-tungen widmen. War in den letzten Stunden jeglicher Gedanke an den herbeigesehnten Ausflug verdrängt worden, so kehrte jetzt meine Vorfreude zurück. Vergnügt und wie von großer Erleichterung getragen landeten wir als siebenköpfige familiäre Reisegruppe am darauffolgenden Tag in Altenburg und sahen mit gespannter Erwartung dem „Prinzenraub" entgegen.

Wir erlebten eine großartige Aufführung dieses Theaterstückes, bei dem sogar das Wetter mitspielte. Endlich erfuhr ich, künstlerisch dargeboten, ausführlich von dieser historischen Begebenheit:

In der Folge des sächsischen Bruderkrieges stellte der Ritter Kunz von Kaufungen, Forderungen an seinen Landesfürsten Friedrich, für den er in den Krieg gezogen war und durch Gefangennahme Lösegeld zahlen musste. Außerdem erwartete er von seinem Kur-fürsten eine Entschädigung für seine im Krieg zerstörten Landgüter. Der Kurfürst verweigerte jedoch jegliche Zahlungen. Nach langen Debatten brach Kunz von Kaufungen mit zwei weiteren verbündeten Rittern und Gefolgsleuten auf und entführte in der Nacht zum 8.Juli 1455 die beiden Söhne Friedrichs. Er nutzte den Umstand, dass der Hausherr und der Hofstaat gerade auswärts bei einer Hochzeit weilten. Die jungen Prinzen konnten nach kurzer Zeit befreit werden und unversehrt nach Hause zurückkehren. Ihr Entführer wurde hart bestraft.

Nach der Aufführung bot sich uns im Schlosshof ein mittelalterlich gestaltetes Markttreiben, bei dem allerlei Spezialitäten, Leckereien, Kunsthandwerk und die üblichen, sagen wir mal weniger anspruchsvollen Artikel angeboten wurden. Thilo erstand ein T-Shirt mit der Aufschrift „Prinzenräuber". Übermütig vor Freude scherzten wir mit Ihm: „In London solltest du dich damit besser nicht blicken lassen! Da gibt es ja auch Prinzen!" Unsere Erleichterung darüber, den zeitweilig Vermissten wieder sicher und wohlbehalten in unserer Mitte zu haben, versetzte uns in eine ausgelassene Stimmung. Wir genossen das familiäre Zusammensein hier im Schlosshof des alten Gemäuers.

Da war sie wieder, die alte Burg! Gleich einer Wächterin erhebt sich diese Mutter aller Burgen über das Häusermeer, über die Gassen und Plätze zu ihren Füßen und scheint die Stadt, deren Bewohner und Gäste zu behüten.

Von den Terroranschlägen in London erfuhren wir Tage später, dass es 56 Todesopfer und über 700 Verletzte zu beklagen gab.

Veröffentlicht in Schnee

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