Reinhild Paarmann: Stacheldraht ums Herz

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Stacheldraht ums Herz


In der Nacht vor der Tagestour von Odessa nach Triaspol in Moldawien hatte ich von der indischen Glücksgöttin Lakshmi geträumt. Es konnte also nur gut gehen. Aber vielleicht war es ja auch Durga gewesen oder Kali mit der blutig heraushängenden Zunge, die alles zerstört. Wir hatten tags zuvor von unserem Taxifahrer erfahren, dass vor einem Monat ein amerikanisches Ehepaar versucht, über die Grenze zu Moldawien zu reisen. Sie schafften es nicht, obwohl sie den ganzen Tag von Grenzübergang zu Grenzübergang fuhren, denn sie hatten keine Visa. Aber wir hatten ja Visa. Von Odessa aus fuhren wir mit einer Dolmetscherin mit dem Bus in zwei Stunden zur Grenze von Moldawien, wo wir um 10 Uhr ankamen. Wir wollten nach Triaspol.

Der Bus hielt an. Warten, warten. Es war nicht zu erfahren, ob und wann es weiter gehen würde. Vorn der Schlagbaum, dann Soldaten, Grenzer mit Maschinenpistolen. Stacheldraht ums Herz. Mir fielen die vielen Besuche ein, die ich von West-Berlin aus zu meinem Onkel in Kleinmachnow in der DDR unternommen hatte. Die vielen Schikanen, die man über sich ergehen lassen musste. Wie wir warten auf Mitreisende warten mussten, da sie Fotos dabei hatten, was verboten war. Oder auf unsere Mutter, die eine Bibel mitgenommen hatte. Druckerzeugnisse durften nicht eingeführt werden. Sie wusste es ganz genau und wollte provozieren. Meine Mutter musste sich ausziehen. Wir Kinder hatten unsere Briefmarkensammlung heimlich bei uns. Mein geistig behinderter Bruder verplapperte sich. Immer die Angst, nicht über die Grenze zu kommen oder nicht zurück.

34 Grad war es im Schatten. Ich wusste nicht, ob ich vor Angst oder vor Hitze schwitzte. Der Schweiß lief mir innen an den Oberarmen entlang. Unter dem Träger meines Rucksackes, der quer über die Brust hing, hatte sich ein dunkler Schweißfleck gebildet. Im Bus war es nicht auszuhalten, weil die Klimaanlage im Stehen nicht lief. Ein Mann bot draußen seinen lecker duftenden Räucherfisch an, der reißend Absatz fand, denn dann konnte man mehr Wodka trinken. Dafür stank es von den Toiletten her, die mit einem blauen Wellblech abgeschirmt waren. Toiletten? Ich riskierte einen Blick dahinter. Da waren nur zwei Löcher mit zwei vom Kot verschmierten Porzellanfüßen, auf denen eine Frau stand. Ich verdrückte mir lieber mein Bedürfnis. Aus den Auspuffanlagen der anderen Autos, die ihren Motor wegen der Klimaanlage anließen, stank es wie von Tintenfischen. Ich bekam keine Luft mehr. Die Leute rauchten. Ich hustete. Irgendjemand schien mir den Hals zuzudrücken.

Eine Ukrainerin erzählte, dass sie einmal ihren Pass verloren hatte. Sie besorgte sich eine Ersatzbescheinigung, nachdem sie angeben hatte, der Pass wäre ihr gestohlen worden. Sonst wäre man zu ihr nach Hause gegangen und hätte gesucht. Sie wollte ihre Tochter in Weiß-Russland besuchen. Der Eisenbahnschaffner erkannte die Ersatzbescheinigung nicht an. Sie bot ihm 30 Dollar. Er blieb hart. Die Frau steigerte ihre Bestechung auf 50 Dollar. Er forderte sie auf, bei einem kleinen Bahnhof mitten in der Steppe auszusteigen. Sie verließ den Zug. Dann lief der Schaffner hinter ihr her und wollte doch die 50 Dollar haben. Nun war sie aber nicht mehr dazu bereit und wartete auf den nächsten Zug. Schauergeschichten, redete ich mir ein. Das passierte uns nicht. Oder doch? Trotz der Hitze kroch mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Ich sollte wieder in den Bus einsteigen. Dann kam ein Grenzbeamter, der unsere Reisepässe kontrolliert und diese einsammelte. Ich hatte Angst davor, dass er auch meine Ausreisegenehmigung nach Berlin mitnahm, und wollten sie wegstecken. Aber er bestand darauf, diese mitzunehmen. Dann musste ich wieder aussteigen und zu einem Kontrollgebäude gehen, wo ich eine Zollerklärung in Ukrainisch ausfüllen sollte. Dies erledigte meine Dolmetscherin, die mich begleitete. Wie viel Geld in welcher Währung haben Sie mit, wollten die Grenzbeamten wissen. Mit den ausgefüllten Zetteln ging ich zur Gepäckkontrolle. Ich und mein Rucksack wurden gefilmt, bevor das Gepäck auf einem


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Fließband geröntgt wurde. Ein Grenzbeamter erklärte, dass ich nur ein Visum für Moldawien, aber nicht für die Autonome Moldawische Dnejstr- Republik hätte, in der sich die Stadt Triaspol befindet. Ich hatte von so einer Republik noch nie gehört. „Ich kann ja bei ihnen auch nicht einfach so einreisen,“ argumentierte der Grenzbeamte. Ich war schon ganz verzweifelt. Sollten alle Bemühungen für diese Reise umsonst gewesen sein? Ich hatte doch eigentlich nur deswegen Odessa in die Ukrainetour eingeplant, um von dort aus in einem Tagesausflug nach Triaspol kommen zu können. Es waren ja nur 80 km. Ein Traum hatte mir mein Leben im 11. Jahrhundert hier gezeigt. Ich wollte den Ort nun mit eigenen Augen sehen.

Die Reiseleiterin erklärte, dass nun der Zeitpunkt der Bestechung gekommen wäre. Ich schob 20 Doller hinüber. Der Grenzbeamte reagierte erfreut und erklärte sich nun bereit, uns für weitere 6 Gryvnja eine Ein- und Ausreisegenehmigung auszustellen. „Und wenn wir ausreisen, müssen wir noch einmal 20 Dollar bezahlen?“

„Ich habe bis 18 Uhr Dienst. Wenn Sie bis dahin wieder zurück sind, nicht.“

„Was wollen Sie denn eigentlich in Triaspol?“, fragte an der letzten Kontrolle ein Zöllner zu meiner Überraschung auf Deutsch.

„Ich bin Touristen und will einfach mal so gucken“, erklärte ich, denn ich konnte ihm doch nicht meine wahren Absichten offenbaren, dass ich nämlich dort auf Inkarnationsspuren wandeln wollte.

„Sehen Sie sich den Stadtpark an,“ empfahl er mir. Damit waren wir nach zweistündigem Aufenthalt an der Grenze entlassen und konnten mit dem Bus weiter fahren. Wir waren erleichtert. Aber wie würde die Rückfahrt werden? Würden wir es rechtzeitig bis 18 Uhr schaffen? Würden die Grenzbeamten uns zurücklassen?

Nach einer weiteren halben Stunde erreichten wir den Bahnhof von Triaspol. Dort wollten wir Rückfahrkarten kaufen, aber uns wurde gesagt, dass man nicht sagen könnte, ob um 16.20 Uhr noch Plätze frei wären. Wir sollten 20 Minuten eher kommen. Und wenn nun heute gar kein Bus mehr kam, wo sollten wir dann schlafen?

Vom Bahnhof sollte ein Trolley-Bus in die Innenstadt fahren, mit dem wir zum Museum fahren wollten. Aber kein Bus kam. Am benachbarten Taxistand wunderten sich die Taxifahrer über uns.

„Wer fährt denn heute noch mit einem Trolley-Bus, gestern wurde einer in die Luft gesprengt. Wahrscheinlich war der Täter ein Rumäne, der möchte, dass unser Land wieder zu Moldawien kommt.. Ein sechsjähriges Mädchen, das seine Großmutter besuchte und 1000 km weit angereist war, kam um. Einige Erwachsene wurden verletzt.“

Schon lange nicht waren wir so erleichtert in ein Taxi gestiegen. Der Taxifahrer freute sich über das gute Geschäft. „Sind Sie glücklich, dass jetzt so viel Taxis fahren?“, fragten wir ihn. „Ich bin sehr glücklich,“ antwortete er. Vielleicht versuchte der nächste Terrorist nun einmal zur Abwechslung, ein Taxi in die Luft zu sprengen.

Wir hielten am Museum. Eine junge, mollige, kleine Frau erklärte uns mit einem Zeigestock die Geschichte der Autonomen Moldawischen Dnejstr- Republik, die es seit 1990 gibt, aber noch von keinem Land anerkannt wurde. Sie spaltete sich von Moldawien ab, weil dies wieder die lateinische Schrift einführte. Die Dnejstr- Republik wollte bei ihrem kyrillischen Alphabet bleiben, denn sie hatte viele ältere russische Einwohner. Einige ihrer Abgeordneten und der Präsident wurden von den Moldawiern gefangen genommen, um den Anschluss an Moldawien zu erzwingen. Es gab drei Tote. Die Frauen streikten und setzten sich so lange auf die Schienen, bis ihre Männer wieder freikamen. Ein Jahr später gab es im Nachbarort Bedere Krieg. Viele wurden getötet. Demnächst würde es eine Abstimmung geben, ob die Einwohner möchten, dass Moldawien zu Russland kommt oder zu Moldawien, denn man habe eingesehen, dass man allein so nicht weiter existieren konnte. Ich war ungeduldig und dachte: Wann hört sie endlich auf? Dies interessiert mich nicht. Ich hatte Angst davor, meine


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Zeit hier nicht sinnvoll nützen zu können, um den Ort zu finden, wo ich einmal gelebt hatte.

Die eifrige Museumsführerin mit ihrem roten Pulli, großen Busen und dem kurzen modischen Rock, an dem eine Silberkette hing, erklärte uns dann die Produkte des Landes. Der moldawische Wein ist weltberühmt und wird sogar von Queen Elisabeth bestellt. Eine Flasche Kognak, den die Moldawier hier herstellen, kostet 100,-€. Es ist der beste der Welt. Im Ausland kostet er das Fünffache.

Nun sollten wir die Gemäldegalerie ansehen, aber ich wollte nicht.

„Vor 1792 muss es doch hier auch schon was gegeben haben so jung kann doch Triaspol gar nicht sein.. Ich weiß, dass die Griechen und Römer hier waren.“

Eine Schriftstellerin, die auch in dem Museum arbeitete, bestätigte dies. „Ja, es wurden Ausgrabungen gemacht. Die Funde kann man in unserer Hauptstadt sehen. Einige liegen auch im Magazin.“

Sie war Spezialistin für die Festungswälle, zu denen wir gingen. „Schreiben Sie doch darüber,“ ermunterte ich sie. „Die Unterlagen liegen wahrscheinlich in einem Archiv in St. Petersburg und sind in Französisch. Ich habe keine Möglichkeiten, da ran zu kommen. Außerdem würde dies viel Geld kosten, das ich nicht habe.“ Auch die Reste vom Pulverturm, den uns ein alter Mann aufschloss, besichtigten wir.

„Hier sind am Ende des 2. Weltkrieges 200 Männer von Bolschewiken ermordet worden,“ erklärt uns die Schriftstellerin. Der muffige Keller roch immer noch von ihrem Angstschweiß.

Die Schriftstellerin zeigte uns nun die Stelle, wo früher die Kirche gestanden hatte. Die Bolschewiken hatten sie in den 30er Jahren die Luft gesprengt. An der Stelle befindet sich heute ein hässlicher Neubaublock.

Ich fühlte, dass in der Nähe die Stelle war, wo ich schon einmal gelebt hatte. Das war im 11. Jahrhundert. Darum war ich hier. Viele Träume hatte ich von dieser Zeit gehabt und den Ort ausgependelt. Vor meinen Augen sah ich unsere Hütte wachsen. Hinter dem Festungswall war der Dnejstr, der damals Trias hieß, wo ich gebadet hatte, als der Überfall auf uns Dorf geschah, bei dem ich geraubt wurde. Wie viel Angst hatte ich ausgestanden!

„Auf dem Militärgelände gibt es eine ähnliche Kirche. Wenn sie wollen, laufen wir dorthin. Es ist nicht sehr weit."

Wir gingen in die Richtung der Kirche. Aber es dauerte doch länger, als sie gesagt hatte. Unsere Zeit war knapp. Da nahmen wir uns ein Taxi. Die Schriftstellerin war mit einem Militär verheiratet. Sie hoffte dadurch, dass wir auf das eingezäunte Gelände kommen durften. Hinter Gittern sahen wir die Kirche mit dem hellblauen Dach. Eine gefangene Kirche. Wir warteten, denn der diensthabende Soldat am Eingang sagte uns, dass er dies nicht entscheiden dürfte, wir müssten auf seinen Vorgesetzten warten. Aber er kam nicht.

Zurück fuhren wir mit einem Kleinbus zum Bahnhof. Die Schriftstellerin berichtete, dass die Abstimmung, die in zwei Monaten hier stattfinden würde und von der die Museumsführerin uns erzählt hatte, der gewinnen würde, der das meiste Geld bezahlte. Die Frau am Schalter konnte immer noch nicht sagen, ob drei Plätze im Bus nach Odessa frei wären, obwohl es 16 Uhr war. Es wäre überhaupt nicht klar, ob ein Bus um 16.20 Uhr käme. Wir kauften eine große Cola für uns und eine kleine für die Dolmetscherin. Cola ist gut gegen Durchfall. Und der hatte sich bei mir gemeldet. Am Kiosk beobachten wir, wie die Verkäuferin Wodka aus einer Markenflasche zur Hälfte in eine andere Flasche goss, um die Markenflasche mit Selbstgebrannten aufzufüllen.

Am Bahnhof suchte ich die stinkende Toilette auf, die auch nicht viel besser als die bei der Grenze war. Ich holte aus meinem Rucksack Toilettenpapier und ein Hygienetüchlein.



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Um 16.20 kam der Bus. Wir stürzten uns auf den Bus und ergatterten drei freie Plätze. Eine Frau mit einem Kind, das einen nackten Po hat und ein Mann stiegen ein. An der Grenze mussten wir wieder Mal den Bus verlassen. Die Frau hielt ihr Kind ab, das auf dem Boden kackte. Dann wischte sie ihm mit Zeitungspapier den Po ab. Sie wollte mit anderen zusammen per Fuß über die Grenze. Der Frau war schlecht. Später sollten wir sie wieder einsammeln.

Bei einem jungen Polen, der mit zwei anderen unterwegs war, wurde durch den Röntgenapparat ein langes Messer entdeckt. Alle drei Polen verschwanden für eine Stunde. Dann waren sie wieder lachend da und erzählten, dass sie eine Bestechungssumme gezahlt und ihr Messer wieder bekommen hätten. Wir mussten doch noch unsere Ausreiseerlaubnis nach Berlin bekommen, fiel uns nun ein. Der Angstschweiß brach mir aus. Schnell erledigte dies unsere Dolmetscherin für uns.

Eine junge Frau erklärte, dass es bei der Einreise zu spät gewesen wäre. Darum hätte sie sich nicht registrieren lassen. Gegen eine Bestechungssumme durfte sie weiter fahren.

Eine andere junge Frau wurde gefragt, wo sie denn in Odessa wohnen würde. „Das weiß ich nicht, ich werde abgeholt.“

Eine Frau mit Schiebermütze und drei Kindern stieg mit Gepäck ein. Was sie wohl in ihrer dicken karierten Reißverschlusstasche hatte? Die Grenze war für Waffenschmuggel bekannt.

Es gab auch Frauen, die sich in die Luft sprengten, wie ich in der Zeitung gelesen hatte. Stolze palästinensische Frauen. Warum trug sie denn sonst eine Schiebermütze, durch die man ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte? Der Sohn war ungefähr 14 Jahre alt und trug ein „PUMA“- Hemd. Selbstmörder nahmen gern ihre Kinder mit in den Tod. Wir sammelten die Fußgänger nach der Grenze zur Ukraine ein. Würden die Grenzbeamten uns hinüberlassen? Bis 18 Uhr schafften wir es, die Grenze zu passieren. Es waren 1 ½ Stunden am Übergang vergangen. Aber es war verdammt knapp gewesen und hatte uns viele Nerven gekostet. Mein rechtes Auge zuckte vor Nervosität.

Nach zwei weiteren Stunden kamen wir in Odessa an. Ein schönes Gefühl war es, wieder frei zu sein. Die Hitze hatte nachgelassen. Ein kühler Wind strich vom Schwarzen Meer über meine schweißverklebten Haare. Der Stacheldraht um mein Herz löste sich und verschwand im Schwarzen Meer.

Zwei Monte danach: In der Zeitung steht, dass die Autonome Moldawische Dnejstr- Republik sich bei der Abstimmung dafür ausgesprochen hat, zu Russland zu kommen. Die Weltöffentlichkeit erkennt dieses Ergebnis nicht an, weil sie argwöhnt, dass die Wähler bestochen wurden.

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