Edda Winkel: Störche

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1995 liegen die Sommerferien sehr spät. So kommt es, dass wir im September noch an der bulgarischen Schwarzmeerküste sind. In den letzten Tagen fällt uns eine Vielzahl von Störchen auf. Sie staken über die Weiden, stochern auf abgeernteten Feldern und sitzen auf Masten und Leitungen. Worauf warten sie?

Wir liegen am Strand, da erscheinen dunkle Punkte über dem Meer. Sie kommen vom Horizont, wachsen, werden immer größer, sind nicht mehr zählbar. Jetzt kann man die lang ausgestreckten Hälse, die schwarzweißen Schwingen und die langen nach hinten gerichteten Beine erkennen, es sind Störche. In gleichmäßigem Ruderflug nur wenige Meter über den Meereswellen ziehen sie heran. Sowie sie das Land erreicht haben, hört der Flügelschlag auf. Sie nutzen den warmen Aufwind und lassen sich tragen. Über unseren Köpfen schweben sie lautlos kreisend aufwärts, bilden eine riesige sich hochschraubende Spirale. In der Höhe, ein Kilometer, zwei Kilometer, ich weiß es nicht, treiben die ersten Störche in Richtung Türkei davon während unten immer neue Vögel in die Spirale einsteigen, es müssen Tausende sein. Längst sind wir aufgesprungen, staunend sehen wir sich weitere Spiralen bilden. Über dem Land drehen die Vögel in faszinierendem pausenlosen Hinauf. Nach zwei Stunden rotieren immer noch dutzende Spiralen, nehmen direkt über uns die Ankommenden vom Meer auf und geben in der Höhe die Abreisenden frei. Wir erleben den Ostzug der Störche ins afrikanische Winterquartier. Unsere Freunde aus Brandenburg sind nicht dabei, sie benutzen die Westroute. Dann ist alles vorbei. Der Nacken schmerzt, das macht nichts, stumm und glücklich sitzen wir wieder auf unseren Handtüchern.

Zwei Jahre vergehen. Da fällt mir ein Büchlein mit Tonkassette zur Selbsthypnose in die Hand. Sofort bin ich interessiert, schließlich praktiziere ich seit zwanzig Jahren autogenes Training. Ich folge der Anleitung, zähle langsam von hundert rückwärts, lasse mich von der Tonbandstimme verführt in Trance versetzen und stelle mir vor, dass ich durch das Dach unseres Hauses schwebe, an den Meeresstrand gelange und weiter und weiter überall hin. Ich gleite über angenehmen Orten und suche, wo es schön war.

Wieder sehe ich die rotierenden Störche und da passiert es, ich werde mitgezogen, mit ausgebreiteten Armen und lang gestrecktem Körper steige ich langsam kreisend und schaue mich um. Neben mir gleiten die Störche. Sie bemerken mich nicht, ich bin da, gehöre dazu und verlasse wie sie in großer Höhe die Spirale. Es geht nach Süden. Unter mir liegt das farbige Istanbul, der Bosporus, das blaue Meer. Wir erreichen die Küsten Afrikas. Da ist die Sahara, ich lausche wieder dem ansteigenden Zirpen der Zikaden und sehe die roten Sanddünen im Abendlicht. Nach einer Zeit der Stille höre ich sehr unwillig die Stimme, die mich zur Umkehr auffordert.

Heute nach zehn Jahren verwischen sich Wirklichkeit und Traum. Der Vogelzug verliert sich, aber jederzeit kann ich das glückliche Steigen mit den großen beeindruckenden Vögeln zurückholen.

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